Sensus Communis: Notwendiger Fundamentbau oder antiphilosophisches Herdendenken?
In öffentlichen Diskursen - seien sie politischer, kultureller oder ethischer Natur - fällt nicht selten der Begriff Common Sense oder das deutschsprachige Pendant des gesunden Menschenverstandes. Meist soll mit diesen Bezeichnungen darauf verwiesen werden, dass bestimmte - inzidentell der eigenen Position entsprechenden - Fakta notwendigerweise und unumgänglich von allen Seiten des Gesprächs akzeptiert werden müssen, damit der Diskurs überhaupt fortgeführt werden kann oder womöglich zu einem angestrebten Ergebnis führt. Auch in philosophischen Fachdiskursen - wenn auch weniger häufig - kann der Common Sense-Begriff oder mit ihm verwandte Äußerungen wie der Sensus Communis Bedeutung tragen. Jedoch scheint diese Bedeutung zu variieren, je nach Gespräch und Gesprächsteilnehmern; der Common Sense wird einen gewissen nebulösen Mantel nicht los, denn egal welcher Standpunkt vertreten wird, egal wie konträr zwei Positionen auch sind - so kommt es doch vor, dass beide der Meinung sind, den Common Sense auf ihrer Seite zu haben.
In diesem Essay soll versucht werden, in groben Zügen die verschiedenen Arten herauszustellen, auf die ein Sensus Communis verstanden werden kann. Daraufhin soll ein fundamentaler Widerspruch aufgezeigt werden, der zwischen dem Sensus Communis und der Essenz philosophischer Tätigkeit besteht. Zuletzt wird ein möglicher Lösungsvorschlag vorgestellt, die Kluft zwischen Common Sense und genuin philosophischer Handlung zu überbrücken.
Ein knapper Umriss der phänomenologischen Unterscheidung von drei Arten des Gemeinsinns
Um uns dem Verständnis von dem anzunähern, was heute üblicherweise unter Common Sense verstanden wird, soll nun kurz die Herkunft und drei verschiedenen Arten dieses Konzeptes dargestellt werden.
Koinë aislhësis (sensus communis) wird von Aristoteles als die fundamentale Fähigkeit beschrieben, sowohl die Welt als auch sich selbst durch das Medium des belebten Körpers wahrzunehmen. Das direkte Empfinden des Körpers qua unserer Sinne hat in diesem Kontext die brückenschlagende Funktion, das Verständnis vom Selbst und der „Außenwelt” zu vernetzen.1 Diese Fähigkeit lässt sich durchaus als notwendige Grundkompetenz benennen, die benötigt wird, um mit der Welt und anderen Menschen zu interagieren und diese Interaktion bewusst wahrzunehmen.
Zweitens kann man den Sozialsinn (social sense) als ein, mit dem Common Sense eng verwandtes, Konzept benennen. Dieser Sozialsinn bezieht sich nicht mehr nur auf das eigene Selbstverständnis, den Körper und die Außenwelt, sondern auch konkret auf habituelle Verhaltensweisen, die mit anderen Menschen geteilt werden.2 Durch die Wahrnehmung und Reflexion über Verhaltensweisen, die wir mit anderen Menschen teilen, entsteht eine Primärform der Empathie. Weiterhin wird durch die Entstehung dieses Sozialsinns der Weg zu dem geebnet, was heute als theory of mind verstanden wird, d.i. die Kompetenz, sich selbst und anderen Menschen mentale Zustände, Überzeugungen, Neigungen und Gefühlslagen zuzuschreiben und eigene Erfahrungen mit kognitiven Regungen auf die Verhaltensweisen und Zustände anderer Menschen zu übertragen.
Zuletzt soll der Common Sense genannt werden, wie er spätestens seit George Edward Moores 1925 erschienenem Essay A Defence of Common Sense verstanden wird - sowohl in philosophischen Diskursen, wie auch zu einem großen Teil in öffentlichen, politischen und privaten Gesprächen; diese Form des Common Sense möchte ich als die für diesen Essay wichtigste Form herausstellen. Sie meint grundsätzlich die kognitive Kapazität der Menschen, fundamentale und geteilte Regeln und Axiome als gegeben zu akzeptieren. Diese Common Sense-Regeln werden implizit als Fakta hingenommen, ohne dass es einer Reflexion oder Hinterfragung bedarf. Sie gründen essenziell auf allgemeinem gesellschaftlichen Konsens.3
Wenn auch die drei zuvor genannten Arten des Gemeinsinns, des Sensus Communis, nicht immer klar voneinander differenziert auftreten, sondern vielmehr ineinander übergehen und sich im praktischen Leben nicht selten überschneiden, möchte ich die folgende Kritik besonders auf die zuletzt genannte Art fokussieren. Diese Art des Common Sense, von Moore geprägt und bis heute in vielen Diskursen ein häufiges - mindestens rhetorisches - Mittel der Argumentation, widerspricht in seiner Essenz einer der größten Bemühungen der Philosophie; einer Essenz, die irgendwo zwischen basaler Reflexion - sowohl vom eigenen und dem Verhalten anderer Menschen, wie auch von Abstrakta und grundlegenden Konzepten von Wahrheit, Schönheit, Tugend usw. - sowie radikalem methodischen Zweifel existiert. Philosophisches Denken und Reflektieren hat sich von nicht-philosophischen Disziplinen und Alltagsgesprächen spätestens seit den Vorsokratikern durch das genaue Gegenteil von dem unterschieden, was von einer Common Sense -Herangehensweise an Probleme erwartet wird.
Wenn wir uns in einem epistemologischen Rahmen an das, was die Philosophie ausmacht, annähern wollen, können wir Wissen, Wahrheit, Weisheit oder Erkenntnis als erstrebenswerte Ziele benennen, die durch die Methoden und Instrumente der philosophischen Untersuchungen und Argumentationen erreicht werden sollen. In diesem Rahmen würde ein Common Senseapproach allerdings gar nicht von Nutzen sein, da das, was durch ihn erreicht werden kann, keine wahren, sondern nur geteilte Annahmen, Urteile und Überzeugungen sind, welche wir relativ zu einer bestimmten, soziokulturellen Gruppe hinnehmen, aber niemals selbst finden.4
Es bestehen in unserem praktischen Leben natürlich nicht ausschließlich Werte, deren Wahrheitsgehalt sie für unser Handeln relevant machen; soziale Rollen, angemessenes Verhalten oder Konstitutiva der Höflichkeit und des respektvollen Umgangs miteinander scheinen sich in einem anderen ideellen Raum als epistemologische Untersuchungen zu befinden. Jedoch wird der gesunde Menschenverstand, wie der Common Sense meist in der deutschen Sprache ans Licht tritt, eben in solchen Diskursen angewandt, in denen es nicht bloß um subjektive Einschätzungen geht, sondern um pseudo-objektive Erkenntnisse über die politischen und kulturellen Begebenheiten unserer Zeit.
Die Philosophie beginnt dort, wo der Common Sense sich erschöpft
Vorhandene Werte, Überzeugungen und ganze Systeme von Moralverständnis tragen immer die Gefahr mit sich, dogmatischer Natur zu sein und weder für den einzelnen, noch für die Allgemeinheit, andere Tiere oder die Natur vorteilhaft zu sein. Die Menschen nehmen bereits den Großteil der Werte vergangener Zeiten auf diese kritisch-distanzierte Weise wahr. Ebenfalls werden die Überzeugungen von Personen, Gruppen und ganzen Gesellschaften, die an anderen Orten der Welt und unter anderen soziokulturellen Umständen bestehen, kritisch hinterfragt. Doch das Minimum an kritischer Reflexion und Skepsis, das in diesen Momenten zu tragen kommt, wird leider häufig vermisst, sobald es um die Werte der unmittelbaren räumlichen und kulturellen Umgebung geht. Das hauptverantwortliche Moment für diese scheinbare Blindheit gegenüber den Schwachstellen der eigenen Umgebung ist der Common Sense. Zu allen Zeiten, in denen die Philosophie sich einen Platz in der Gesellschaft und in öffentlichen Diskursen ermöglichte - zum Teil erkämpfte waren es Menschen, die sich offen gegen die Scheinwahrheiten ihrer Zeit aussprachen und sich damit gegen den Common Sense ihrer Zeit stellten. Was wir unter dem Ende von historischen Epochen und unter jeder nennenswerten kulturellen Veränderung verstehen, wurde stets von den Gegnern des Common Sense ermöglicht.
Friedrich Nietzsche erkannte die Relevanz von Common Sense-Antagonisten und der Notwendigkeit, unhinterfragte Systeme abzuweisen und stattdessen selbst - als schöpfendes Individuum - Urteile, Überzeugungen und auch Wahrheiten in die Welt zu bringen.
„In den einzelnen Geschlechtern strebt der Wille darnach, matt und gut zu werden und abzusterben. Ebenso in einzelnen Culturperioden.”5 Weiterhin sind es, so Nietzsche, die führenden und herrschenden Geister, die als einzige in der Lage sind, dasjenige von sich abzuwerfen, was die Allgemeinheit zuvor als Gemeinsinn hinnahm; diese Führer können sich „[b]efreien und sich vom Befreiten verachten lassen”6.
Doch wieso sollten es die Menschen, denen es ihr Stand, die Gegebenheiten ihrer Lebensumstände oder ihr Schicksal unmöglich macht, andere zu führen, den Führern und Herrschern nicht in dem Sinne gleichtun, dass sie sich von den Scheinwahrheiten ihrer Zeit befreien und durch einen reflexiven, kritischen Blick zu eigenen Wahrheiten gelangen?
Wie man es schafft, den Common Sense zu überwinden
Wie zuvor in groben Zügen herausgestellt wurde, ist es für das Individuum sowie für die kulturelle Weiterentwicklung einer Gesellschaft notwendig, die Überzeugungen, Normen, Konventionen und Grundsätze der räumlichen und zeitlichen Umgebung zu erkennen, kritisch zu beurteilen und mit scharfem Sinn abzuwägen, welche dieser Glaubensgrundsätze überholt oder sogar schädlich ist und überwunden werden sollte. Schädlich meint in diesem Kontext -
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1 Vgl. Hipolito, Ines/ Goncalves, Jorge/Pereira, Joäo G. (2018): Schizophrenia and Common Sense. Explaining the Relation Between Madness and Social Values. Springer Verlag. S. 20-21.
2 Vgl. ebd. S. 21.
3 vgl. ebd.
4 vgl. ebd.
5 Nietzsche, Friedrich (1923): Gesammelte Werke, neunter Band. Menschliches, Allzumenschliches. Musarion-Verlag: München. S. 463.
6 ebd.